Eines sonnigen Donnerstags im April werde ich auf einer Gastronomieterasse aus Versehen Zeugin eines der ernüchternsten Unter- Männern-Gespräche, die ich je mit anhören musste. Gerne hätte ich mich früher mit dem Zeug beschäftigt, das ich zwecks Erledigung mit ins Café schleppte, aber ich kann einfach nicht weghören. Zwei männliche Menschen, einer Ende vierzig, der andere Mitte zwanzig, nehmen am Nebentisch Platz. Wir nennen sie Grün und Beige, aufgrund ihrer Oberbekleidung, einmal T-Shirt und einmal Polohemd. Der Redeanteil vom älteren Beige beträgt solide 85 Prozent, wir haben es hier mit einem klassischen Fall von „ich höre gern den beruhigenden Klang meiner Stimme“ zu tun. Sein Sprechtempo ist zermürbend, da konsequent einige Tickchen zu langsam. Die Sätze wohlüberlegt, die Satzbauten nicht übel, aber das Tempo verdient keine andere Vokabel als unerträglich. Es soll wohl lässig und tiefenentspannt wirken, tatsächlich aber meint man, er hätte vielleicht ein logopädisches Problem, dieser Eindruck vermischt sich mit einer Selbstgefälligkeit, die er stolz und staunend wie einen frischen Pokal, von dem er selbst überrascht wurde, vor sich herträgt. Das entschieden Unangenehmste an Beige ist allerdings sein großes Bedürfnis, die eigenen seichten Pointen zum Schütteln komisch zu finden und vor lauter atemlosen honkigen Gegacker über sich selbst jedes Mal fast die Fassung zu verlieren. Er gackert im Übrigen nicht erst los, wenn der Satz mitsamt der „Pointe“ zu Ende gesagt ist, sondern er gackert sich umständlich ins Satzende hinein, somit wird das Zermürbetempo kurz unterbrochen von einem Intermezzo des einigermaßen rhythmisch einzelne-Silben-Hervorstoßens.
Die Themen sind vielfältig, immer dominiert Beige das Gespräch. Zum Einstieg wird ausufernd und mit medizinischer Unverfrorenheit von den Klimakteriumsbeschwerden seiner Freundin Ingrid berichtet. Nun wird es also auch inhaltlich gruselig. So möchte kein Mensch in Hörweite Dritter über sich gesprochen wissen.
Ihre Stimmungsschwankungen sind wohl eine Zumutung. Beziehungsweise eine Zu-hu-hu-mu-hu-tung, gackgackgrunz. Ja wenn ich mit Dir leben müsst wäre auch ich eine einzige klimakterische Stimmungsschwankung. Grün lauscht regungslos als könne er etwas lernen. Irgendwann bezeichnet sich Beige selbst als „buddhistisch konservativ.“ Spätestens ab da kann ich vorerst keinesfalls mehr weghören. Viele Namen fallen, scheinbar aus dem gemeinsamen Dunstkreis der lamaistischen Friedensterrorzelle aus der sie sich kennen. Es geht um Gebetsfahnen, Retreats, eine Ladakhreise. Sodann beginnt ein langer Part über die AfD. Es wird eingeräumt, dass die Schlüsselfiguren dieses Vereins keine „wahren Persönlichkeiten“ sind, die Argumente und Ansichten aber zweifellos richtig seien. „Das geht bald alles gewaltig schief“ weissagt man, was genau dieses ominöse „alles“ sein soll wird nicht spezifiziert. Schade. Eine Anekdote wird nun von Beige begonnen, es handelt sich um den Genre-Klassiker „eine Bekannte von einer Bekannten hat was erlebt“. Die wertvollen Schwänke aus mindestens dritter Hand – immer eine stämmige Argumentationsgrundlage. Im akuten Anekdötchen geht es um ein integratives Kaffee&Kuchen-Event, bei welchem „die Muslime“ verdatterte Deutsche hinterließen, indem sie sich einfach den Kuchen in Servietten schlugen und wieder abdampften, obwohl das Event auf gemeinsamen Genuss ausgelegt war. Bereits erwähntes Honkgekacker flammt wieder auf, mehrmals wird „Einfach eingepackt! Die Idio-ho-hoten!“ eingeflochten. Ich atme tief durch. Nix sagen jetzt, Nina, dann isses vorbei mit lauschen. Notier dir lieber die harten Fakten und schreib was drüber.
Bei den lauen Möchtegernpointen Beiges schmeißt sich Grün in einer Weise weg, die einem die Peinlichkeitstränen in die Augen treibt. Er fällt mit dem Oberkörper auf den Tisch und lässt den oberen Rücken sehr anschaulich auf und ab wippen. Dabei muss er mit den flachen Fußsohlen auf den Boden eintrampeln und noch honkiger als Beige grunzen. Er lacht so als sei er ein heulender Burgfestspielschauspieler beim großen Zusammenbruch und auch Reihe sechzig soll seine Schluchzer noch mühelos erkennen können. Ich sitze leider praktisch in Reihe eins. Mein Gott was weckst Du mein schlafendes Mobbing-Gen, Du Wurst.
Grün trägt erstaunlich wenig Eigenes zum Gespräch bei, er hat wirklich kaum Gelegenheit dazu, doch selbst wenn er den tibetischen Redestab mal halten darf nutzt er diese Time-Slots mangelhaft.
Einmal wird er nach einer Natascha gefragt und nun kommt ein sehr wohlüberlegter Satz, auf den er sich wahrscheinlich schon tagelang freut. Mit einer künstlichen Entspannung, zu der er die bisher verstrichene Zeit nicht ansatzweise in der Lage war, lehnt er sich genüsslich in seinem imaginären Testosterthron zurück (wir sitzen auf Bierbänken) und sagt „Tchjaaa, was soll ich sagen, das Wiedersehen war toll, die Gespräche auch und der Sex war der Hammer“
Oh, Du kamst schon mindestens einmal in den Genuss von Geschlechtsverkehr, Danke für die Info. Isja n Ding. Die will ich sehen, die Olle, die dich ranließ. Ich verorte sie, da Beige sie auch kennt, im buddhistischen Milieu und dort herrscht bestimmt ein immenser Frauenüberschuss, wie in nach meinem beschränkten Erfahrungsschatz allen sektenartigen Konstrukten und Lebenshilfe-Clubs. Da warst Du wahrscheinlich ein nulpiger Hahn in handlungswilligem Korbe.
Genau wie so manch älterer deutscher Herr auf Thailandurlaub. Eine überschaubare Rente, eine nicht gerade spritzige oder espritreiche Persönlichkeit, gern gepaart mit stilistischer Unsicherheit – damit reißt man in der BRD nicht allzu viel, auf siamesischem Boden allerdings sieht man sich plötzlich umringt von bedeutend jüngeren, glatthäutigen Damen mit Pochahontashaaren und Katzenfigürchen, die sich über deine schlappen Witzversuche ausschütten wie Hello Kitty höchstpersönlich. Ich verstehe den Reiz des Dableibens unter diesen Bedingungen sehr gut. An dieses Setting muss ich nun denken, während Grün vom Koitus berichtet. Beige zeigt sich von Grüns Schilderungen beeindruckt und für kurze Zeit liegen sie zu zweit mit den Köpfen auf dem Tisch vor Lachen. Was denken die wer sie sind? Malas (was ist die Mehrzahl von Mala, der Kette? Malen?) tragende Comedyautoren, die über die neuesten Entwürfe gebeugt ihre eigenen Einfälle honorieren? Er hat gesagt, dass er Sex hatte, mehr ist nicht passiert, potztausend! Das weiß ich so genau weil ich nach wie vor hemmungslos lausche.
Das Thema Natascha-nageln findet ein jähes Ende, da Beige nun lang genug die Fresse hielt und wieder seinen eigenen Klang hören muss, um gelassen zu bleiben. Er ist gewissermaßen seine eigene Spieluhr und vielleicht sogar deshalb Buddhist: man tönt da doch viel herum und brummt und chantet, das spielt ihm sicherlich in die teigigen Selbstberuhigungskarten. Durch einen vorbei rasenden LKW ist es mir nicht zugebilligt, den genauen Themenbruch zu verfolgen, aber als ich wieder dabei bin höre ich tatsächlich dies: „Wir müssen uns jetzt ein Beispiel an Israel nehmen. Ne Freundin von mir sachte, dass mit der Ghettobildung sei ja so furchtbar. Ich sach zu ihr ja wieso denn? Ist doch billiger als ´ne Mauer drum zu zie-hi-hi-en.“
Danach geht es nochmal um Ingrid, die ja „auch eher so `ne Weiche ist.“ Würg. Und du bist hier der Harte oder was soll das bedeuten? „Aber seit die mit mir Silvester am Hauptbahnhof in Köln war ist die so langsam endlich auch meiner Meinung. Ehe-he-hendlich!“
Aha. Einmal eine Scheißerfahrung mit offensichtlich fremdländischen Männern gemacht, zack, schwenkt sofort das ganze Weltbild woanders hin. Warum konstruieren so viele Leute aus wenigen popeligen persönlichen Erfahrungen hemmungslos Ansichten? Und nein, ich möchte hier nicht die Opfer der widerlichen Grapschereien bagatellisieren. Die Wichser von Tätern gehören zünftig und fantasievoll bestraft.
Würde ich aus meinen paar Erfahrungen Wahrheiten basteln, dann wären „die Flüchtlinge“ allesamt ausgesprochen höfliche, schöne und schöngeistige Leute. Beeindruckende, komplexe Persönlichkeiten mit einem superduper Humor, ausgestattet mit einem Wertesystem, das sich bis auf ein paar Millimeter mit meinem deckt. Dennoch bin ich mir sicher, dass unter den neuen Mitbürgern auch einige Flachpfeifen, viele Machopenner, ambitionslose Weiber, dumme Bauern, die gerne kleine Mädchen verheiraten wollen und grundsolide Arschlöcher zu finden sind.
Diese bildungsbürgertümlichen Knallchargen am Nebentisch aber sind sich nicht zu schade, aus Standarderfahrungen, die wir alle gemacht haben, wie die Bekanntschaft mit überspannten, pöbeligen Migrantenjungs in der U-Bahn zum Beispiel, ganze Volksseelen abzuleiten.
Der nächste LKW. Der nächste Fetzen: „Wir wissen doch wie die Muslime sind, wir wissen das auch aus der Geschichte zwischen Buddhismus und Islam. Warum glauben wir, dass die jetzt nett zu uns sein werden? Weil wir nett zu denen sind? Nee-he-he-he-heeee.“ Kein einziges Mal widerspricht ihm Grün, eher ist dieser wieder in seiner aufnahmebereiten Vogelbabyposition vom Anfang. Er speichert alles genau ab, lässt sich gut eingespeichelte Worthülsen von Beige ins eigene Schnäbelchen würgen um bei nächster Gelegenheit gleichaltrige Personen mit einem sauberen Plagiat des gerade Gebotenen zu beeindrucken.
Ich atme. Und atme. Und wäge ab. Lohnt sich das? Meine Wut hat mir schon einen leichten Grundzitter verpasst, das spüre ich deutlich. Wenn ich jetzt den Mund aufmache wird das albern, ein merkwürdiger Auftritt mit einer Prise Hysterie. Ich werde nichts sagen. Ich starre sie ein bisschen an, mit schiefgelegtem Kopf, und mache mir die letzten Notizen. Für das hier. Diese armseligen Häufchen, die sich als aufgeklärt empfinden. Die ernstlich meinen, sie wären die mutigen Weiterdenker, nicht so verbrämt wie beispielsweise ich, sondern aus einer buddhistisch-philosophischen Ruhe heraus einfach ganz realistisch und sachlich. Durch viel Meditation und das Lesen äußerst komplexer Texte sind sie die geworden, die nun einen kühlen Kopf bewahren können. Erstmal ein Tässchen Buttertee. Was täten wir ohne sie. Was ich finde was sie sind: Sie sind ein eingeschüchtertes, wackeliges Konstrukt antrainierter Verhaltensweisen und sie sorgen sich um ihre Position. So ganz allgemein in der Welt. Der böse Araber kommt, da muss man auf der Hut sein. Ja vielleicht muss man das, sofern man wirklich gar nichts zu bieten hat außer einer exotischen Religion. Die haben die, die da kommen, nämlich auch.