Anna
Aus dem Radio der Nachbarn dringen dumpfe Schlagerklänge. Anna liegt auf der Seite im dunklen Zimmer und beobachtet die kreiselnden Lichter der Autoscheinwerfer, die ab und an über ihren Kleiderschrank huschen. Boris schläft. Seine Atmung, leicht gehetzt und sehr regelmäßig. Vielleicht hat er ein Hamsterherz, denkt Anna, die atmen auch immer so schnell. Sie tut es ihm einen Moment lang gleich, um zu wissen, wie es sich anfühlt. Ihr wird schwindelig davon. Es ist ein angenehmer Schwindel, wie früher, wenn man sich bäuchlings auf der Schaukel eindrehte und dann die Füße hob und sich mit Schwung alles wieder entknotete. Aber einschlafen könnte sie so nie. Das er überhaupt schläft! Immer kann er schlafen. Selbst an dem Abend, an dem er von der Trennung seiner Eltern erfuhr.
Es war schon nach elf gewesen, als es an der Tür klingelte und Annas Herz vor Schreck einen doppelten Schlag tat. Sie stand versonnen im Bad vor dem Spiegel und war damit beschäftigt, ihre Gesichtshaut zu untersuchen und einigen Mitessern den Garaus zu machen; das machte sie manchmal, wenn sie richtig alleine war, beziehungsweise sich richtig alleine fühlte. Ein gutes Alleine, frei von Einsamkeit. Sie warf sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und ging zur vergilbten Gegensprechanlage im Flur. „Ich bin´s“, sagte Boris, „kann ich rein?“ Er hatte bei seinen Eltern zu Abend gegessen, die Stimmung war wohl von Anfang an schräg, aber Boris dachte, das läge an ihm, weil er keine richtige Lust gehabt hatte auf diesen Abend. „Boris, wir müssen heute leider etwas Wichtiges mit dir besprechen.“. Über diesen Satz lachten Boris und Anna schon am selben Abend. Es war so typisch für seine Eltern, die sich in emotional unbekannten Gefilden immer auf das beriefen, was sie irgendwo schon einmal gehört hatten. Wenn sie nicht wussten, wie mit der Situation umzugehen war, dann klangen sie alle beide als hätte man sie einem deutschen Vorabendfilm entrissen.
Es war eine saubere Trennung, ohne Geschrei und ohne plötzliches Kofferpacken. Es war auch keine traurige Angelegenheit, es erschien Boris sogar richtig stimmig. So saßen Anna und er gegen Mitternacht in der Küche und rauchten, Anna hatte dicke Socken an und keine Hose, ihre Haare waren strähnig von einer Kur und oben auf dem Kopf mit einer dicken Plastikspange zusammengehalten. Boris hatte seine Schuhe noch an und piddelte an einem Fädchen seines Pullisaumes. „Ich muss heute leider etwas Wichtiges mit dir besprechen, Anna.“ Er riß den Faden ab, hob den Kopf und sah ihr lächelnd ins Gesicht: „Ich muss jetzt ins Bett!“ „Ok…..“ sagte sie, drückte ihre Zigarette aus, betrachtete den grauen Aschepunkt, der auf ihrem Zeigefinger zurück geblieben war, „Ok. Ich wasch mir noch das Zeug aus den Haaren, und dann komm ich auch.“
Unter der Dusche schüttelte sie den Kopf. Auch wenn das eine friedliche Trennung war, so war es doch die Trennung seiner Eltern; eine Konstante, die seit seiner Geburt Bestand hatte, wurde mit dem heutigen Tag aufgelöst, und Boris reißt Witze und muss ins Bett. Was für ein komischer Kauz.
Als sie ins Schlafzimmer kam hatte er seinen Handywecker schon gestellt, seine Sachen lagen als dunkler Hügel neben dem Bett, sie legte sich neben ihn und hörte sie schon, seine Hamsteratmung.
Genau wie jetzt. Auch heute war er problemfrei in den Schlaf gesunken, obwohl sie sich gestritten hatten wie noch nie. Anna überlegte, an welchem Punkt es gekippt war. War es ein Wort, eine Geste, ein als Witz kostümierter Vorwurf? Anfangs war alles wie immer. Boris hat mittlerweile einen Schlüssel und kam herein, als Anna gerade zur Hälfte im Spülschrank verschwunden war, auf der Suche nach einem allerletzten Müllbeutel. Er stellte eine Einkaufstüte auf den Küchentisch und erzählte, dass die Kioskfrau sich schon wieder beim Addieren zweier Waren verrechnet hat, Anna kletterte aus dem Spülschrank heraus, erfolglos, setzte sich hin und holte in einem Anfall von Uneffizienz die Einkäufe einzeln aus der Tüte und stellte sie vor sich auf den Tisch, derweil beide versuchten, das affektierte Lachen der Kioskfrau zu imitieren. Boris war entschieden besser.
Es war noch Brot da, das weg musste, und von gestern waren noch ein paar Nudeln in einem Meer von Soße übrig. Anna erzählte von der neuen Freundin ihres kleinen Bruders, die sich trotz ihrer 19 Jahre kleidete wie eine ältere Sekretärin, aber nun wohl mit Annas Bruder einen Campingurlaub plane.
Ha! Da war es!
Da schon fragte Boris, woher sie denn so genau wisse, wie sich Sekretärinnen kleideten, die sähen doch alle sehr unterschiedlich aus. Anna zählte ein paar ihrer Meinung nach typische Kleidungsstücke auf und Boris stimmte mit beflissenem Kopfnicken zu und schmierte sich ein weiteres Frischkäsebrot. Aber irgendwann später, nach einigem belanglosen, aber wohlig-alltäglichem Geplapper kam er darauf zurück, auf die Sekretärinnensache, und meinte, das würde sie immer machen, mit dieser Vorverurteilung.
„Vorverurteilung, Aha“ gab Anna zurück, „Wann mach ich das denn? Immer, wenn ich neue Leute kennen lerne, oder was?“
Und so waren sie drin. Beide hatten aufgehört zu essen und schoben während der Tiraden des anderen kleine Krümelhäufchen auf dem Tisch zu geometrischen Formen zusammen. Anna hatte irgendwann eingeräumt, dass Boris eventuell Recht hätte, allerdings würde jeder Mensch solche Vorverurteilungen fällen, nur würde sie die eben aussprechen und Boris eben nicht. Er gab zurück, dass er bestimmt auch manchmal so bös denke, aber nicht so häufig wie sie. Er nannte Anna oberflächlich, sie ihn einen elenden Heuchler. Was nicht ihrer Meinung entsprach, es war lediglich die erstbeste Verteidigung gegen den schmerzhaften Vorwurf der Oberflächlichkeit.
Irgendwann war Boris der Ansicht, man käme da jetzt nicht mehr raus, vielleicht würden sie besser mal schlafen gehen und kucken, ob man morgen nochmal drüber redet oder vielleicht wäre es auch morgen einfach weg. Er hatte völlig Recht, aber Anna wollte nicht aufhören; sie wusste genau, dass Boris sich augenblicklich in seinen Nagerschlaf rettete und sie dort läge, eingeklemmt in ihre Gedanken und gaffend auf Scheinwerferschatten.
In weiter Ferne hört sie das Rauschen einer Klospülung, Boris räuspert sich und fällt nach einem tiefen Seufzer zurück in seinen Rhythmus. Es stimmt vielleicht. Sie ist wirklich schnell in ihren Urteilen und macht keinen Hehl daraus, aber sie revidiert genauso schnell, wenn jemand beweist, dass er ihrem Urteil nicht entspricht. Als sie Boris kennen lernte, war es doch eigentlich genauso. Sie erinnert sich, wie sein Name von Anfang an Thema für sie war; wie sie ihn in einer lauten Freitagnacht vorgestellt bekam und auf dem Nachhauseweg staunte, wie wenig sein Name und sein Auftreten für sie überein stimmten.
Borisse sind lang und hager. Borisse sind nerdig und unsicher. Borisse lachen blöd und merken nicht, wenn man ihnen nicht mehr zuhört. Borisse haben mindestens ein beknacktes Hobby, wie Rollenspiel spielen oder Tischtennisverein. Aber dieser Boris war lang und unhager, hatte klare, ruhige Bewegungen und wollte nicht so sehr auffallen. Er war ein mittelmäßiger Smalltalker, so wie sie, und war im Gespräch so hochkonzentriert, dass er seine Zigarette vergaß und sie ihm einfach weg glomm. Ihr Fantasieboris hätte fahrig daran genuckelt und den Qualm heftig und kurz nach oben weggepustet.
Was für ein seltsamer Vorgang der Alchemie, denkt Anna und dreht sich auf den Rücken, jetzt gibt es keine peinlichen Borisse mehr, es gibt ohnehin nur noch diesen einen. Und der Subtext seines Namens ist kurz und groß geworden. Zuhause.